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Interview mit Timo Schinköthe: "Softwarelösungen werden zukünftig zu Partnern von Ärzten und Patienten"

Erstellt am: 18.05.2022

 

Timo Schinköthe entwickelt mit seinem Unternehmen Cankado Apps und digitale Innovationen für den Gesundheitsbereich. Im Interview spricht er über Medizinprodukte der Zukunft, den aktuellen Stand von eHealth-Anwendungen in Deutschland und die Hindernissen des Datenschutzes.

 

Über Prof. Dr. Timo Schinköthe

Prof. Dr. Timo Schinköthe stellt als Gründer und geschäftsführender Gesellschafter mit der CANKADO GmbH digitale Medizinprodukte her. Mithilfe seiner Apps und digitalen Innovationen unterstützt das Unternehmen Ärzte und Patienten während Therapien oder Studien unter anderen in den Bereichen Onkologie, Kardiologie oder Zelltherapie. Schinköthe studierte Biologie und Informatik in Köln und promovierte in Medizin. Neben seiner Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten forschte er zu Tumorgenetik und -immunologie und befasste sich auch wissenschaftlich mit eHealth-Anwendungen.

 

Herr Schinköthe, Ihr Unternehmen Cankado gehört zu einer der weltweit führenden Hersteller von digitalen Medizinprodukten. Was trieb Sie bei der Gründung an?

Bei der Entwicklung unserer ersten Produkte fragten wir uns, wie wir Kommunikationslücken zwischen Ärzten, Pflegern und Patienten schließen können. Denn wir wussten aus der Praxis, dass viele Patientinnen und Patienten die Informationen über ihren Gesundheitszustand nicht rechtzeitig an das medizinische Team weiterleiteten.

 

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Wie kommt es dazu?

In der Beziehung zwischen Ärzten und Patienten zeigt sich immer wieder, dass Patienten den Behandlern gefallen wollen. Vor allem im Bereich der Onkologie hat dieses psychologische Phänomen skurrile Folgen: Weil sie ihren Arzt nicht mit Beschwerden stören, ihn nicht mit ihrem verschlechterten Gesundheitszustand enttäuschen wollen, schönen Patienten diesen. Frauen etwa sprechen seltener über Fieber, Männer verschweigen das Fatigue-Syndrom, also eine anhaltende Müdigkeit. Andere wiederum leiden nach einer Chemotherapie unter Magen-Darm-Beschwerden. Sie akzeptieren diese Nebenwirkung einfach und adressieren diese nicht beim Arzt, auch weil sie es als natürliche Reaktion auf die Therapie ansehen. Aber damit sich ihr Gesundheitszustand verbessert, müssen Patienten offen mit dem Fachpersonal sprechen.

 

Wie wollten Sie die Interaktion verbessern?

Mithilfe eines digitalen Unterstützungssystems – weil wir davon ausgingen, dass Patienten ehrlicher sind, wenn sie ihr Befinden über eine Anwendung auf einem Bildschirm angeben. Einem technischen System müssen sie schließlich nicht gefallen.

 

PRO-React Onco, eine Web- und App-basierte digitale Gesundheitsanwendung zur Unterstützung von Brustkrebspatienten, verfolgt genau diese Idee. Wie funktioniert das System?

Wir arbeiten mit einem zweistufigen Ansatz. Zunächst wird der Patient gebeten, über die App seinen Gesundheitszustand anhand einer Smiley-Skala einzugeben. Hier kann er zwischen 0 und 100 wählen, wie er sich fühlt. 0 steht für einen sehr schlechten Gemütszustand, während 100 das absolute Wohlbefinden symbolisiert. Auf dieser Ebene spielt der Gesundheitszustand zunächst keine Rolle. Eine künstliche Intelligenz überprüft dann, welche Emotionsschwankungen normal sind und welche nicht. Kommt die KI zu dem Schluss, dass es sich um keine eklatante Schwankung handelt, kann der Patient die App wieder schließen. Ist jedoch das Gegenteil der Fall, bittet ihn die KI einen Fragebogen auszufüllen.

 

"Das Potenzial von klinischen Studien liegt in der fortschreitenden Digitalisierung und der informativen Vernetzung der Menschen", sagt Alcedis-Geschäftsführer Hanno. Dadurch rücke der immer besser informierte Patient weiter in den Mittelüunkt von Forschungen. Lesen Sie hier das ganze Interview.

 

Was wird darin abgefragt?

Es folgen 10 bis 14 Fragen, die sich speziell auf potenzielle Beschwerden der Erkrankung des Patienten beziehen. So wird etwa gezielt nach einer erhöhten Temperatur oder Fieber gefragt. Auf jede Frage folgen vier Antwortmöglichkeiten, der Patient kann auswählen, wie gravierend die Beschwerden sind. Nach Abschluss der Fragerunde informiert die KI ihn, wie er damit umgehen soll.

 

Welche Möglichkeiten gibt es?

Die künstliche Intelligenz unterscheidet zwischen drei verschiedenen Stufen. In der ersten Stufe rät sie dem Patienten oder der Patientin, die gesundheitlichen Beobachtungen und Beschwerden beim nächsten ärztlichen Termin zu besprechen. In der zweiten Stufe wird es etwas dringlicher. Aufgrund verstärkter Beschwerden bittet die KI darum, zeitnah einen Arzt zu kontaktieren und die gesundheitlichen Probleme abzuklären. Die letzte und dritte Stufe duldet keinen Aufschub. Hier fordert die KI dazu auf, sofort einen Arzt oder die Notaufnahme eines Krankenhauses aufzusuchen.

 

Kann das medizinische Fachpersonal die Ergebnisse der App einsehen?

Es gibt in der App einen Bereich für Ärztinnen und Ärzte, den sie zur Vorbereitung auf die Visite mit den Patienten einsehen können. Hier werden alle Beobachtungen, Anmerkungen und Beschwerden inklusive des jeweiligen Schweregrades zusammengefasst, sodass ihnen ein vollständiger Bericht über den Gesundheitszustand des Patienten vorliegt.

 

PRO-React Onco wurde als zweite onkologische App auf Rezept ins DiGA-Verzeichnis aufgenommen. Inwiefern macht sie für Brustkrebspatienten einen Unterschied?

In einer klinischen Studie mit Patienten, die unter fortgeschrittenen Brustkrebs litten, zeigte sich der Mehrwert unserer Anwendung. Wir schlossen damals 500 Patienten ein, die eine Hälfte konnte in der App nur die Medikamenteneinnahme dokumentieren, die andere erhielt Zugang zu PRO-React Onco. Es zeigte sich, dass vor allem die schweren Nebenwirkungen der Krebstherapie reduziert werden konnten. Bei Patienten, die zum ersten Mal eine Krebstherapie absolvierten und mit allen Facetten unserer App unterstützt wurden, haben 59 Prozent weniger schwere Nebenwirkungen. Das zeigt: eine rechtzeitige Kommunikation von Beschwerden minimiert schwere Verläufe.

 

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Sie sitzen mit Ihrem Unternehmen in Deutschland, führen zudem Niederlassungen in den USA, Indien und Argentinien. Wie gut ist Deutschland im Bereich eHealth aufgestellt?

Ich erlebe Deutschland als Entwicklungsland im digitalen Gesundheitsbereich. Es fehlen strukturelle Maßnahmen für die digitale Transformation. In den USA hat beispielsweise Barack Obama während seiner Amtszeit dafür gesorgt, dass Unternehmen, die IT im Gesundheitswesen vorantreiben, finanziell gefördert werden. So wurden auch Schnittstellen, die lokale Daten in digitale Systeme integrieren, weiterentwickelt. Das deutsche Gesundheitswesen ist davon weit entfernt. Statt digitaler Systeme wird hier immer noch auf das Faxgerät gesetzt, aber mit dieser Technologie wird kein digitaler Wandel gelingen.

 

Warum hinkt Deutschland hinterher?

Wir scheitern unter anderem an unserem zügellosen Datenschutz, der viele digitale Entwicklungen verhindert. Ein Kollege von mir sagte einmal: Unser Datenschutz gefährdet Patientenleben. Ich verweise an diesem Punkt immer gerne nach Dänemark. In unserem Nachbarland legt man ebenfalls viel Wert auf Datenschutz, zugleich steht aber der medizinische Nutzen für den Patienten im Vordergrund. So gibt es hier bereits Onlinesysteme, über die Kliniken, Praxen und medizinisches Personal Gesundheitsdaten austauschen. Auch im Kontakt mit Krebspatienten zeigt sich immer wieder: Sie sind an der Verbesserung ihrer Gesundheit interessiert, für sie spielt der persönliche Datenschutz bei weitem nicht so eine gesteigerte Rolle wie in den theoretischen Diskussionen.

 

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Sie haben für Ihre Arbeit verschiedene Innovationspreise erhalten. Zu einer Ihrer persönlichen Zukunfts-Innovationen gehört das OMCAT-Register. Wie funktioniert es?

OMCAT steht für „One Million Cancer Treatment Months“, also eine Millionen Krebsbehandlungsmonate. Das Ziel des Registers ist die Entwicklung von Lerndatenbanken für Krebserkrankungen. Dafür werden die Daten unserer Apps von einer künstlichen Intelligenz ausgewertet, um in Zukunft Vorhersagen über den Gesundheitszustand von Patienten zu treffen. Hierfür arbeiten wir mit einem „Ground Truth“-Ansatz. So werden zusätzlich die verifizierten Daten von Ärzten verwendet, die sie während der Patientenuntersuchung erheben. Anhand dieser beiden Datenstränge können wir etwa Vorhersagen darüber treffen, wann sich der Gesundheitszustand eines Patienten verschlechtern oder aber eine Therapie möglicherweise abgebrochen werden muss. Somit erhält der Arzt mehr Zeit auf potenzielle Entwicklungen zu reagieren und nicht erst einzuschreiten, wenn es eventuell schon zu spät ist.

 

Zudem haben Sie den QTc-Tracker entwickelt. Welches Problem soll er lösen?

Wir stehen heute vor der Herausforderung, dass einige Medikamente Herzprobleme hervorrufen und im schlimmsten Fall zum „Long-QT-Syndrom“ führen. Dieses kann selbst bei gesunden Menschen zum plötzlichen Herztod führen. Patienten werden daher im Verdachtsfall zur Überprüfung von ihrem Onkologen zum Kardiologen verwiesen. Oft dauert es aber zwei Wochen, ehe sie dort vorstellig werden. Dabei ist eine zeitnahe Reaktion essenziell, damit sich ihr Gesundheitszustand nicht weiter verschlechtert. Mit unserem QTc-Tracker wollen wir die Technologie von Wearables wie etwa Smartwatches nutzen. Sie bieten mittlerweile die Möglichkeit, ein einfaches EKG zu messen. Diese Daten werden über unsere App direkt an den Kardiologen geschickt, der dann innerhalb weniger Minuten den Befund direkt über die App an den Onkologen schicken kann.

 

Zwei Innovationen, die die Behandlung von Patienten maßgeblich verändern könnte. Wo sehen Sie die Zukunft in der digitalen Gesundheitsversorgung?

Aktuell funktioniert die medizinische Versorgung wie die Fahrt zur Autoinspektion. Entweder wir haben feste Intervalle oder es ist schon ein Problem da. Die Zukunft liegt aber, um bei dem Bild mit der Autoreparatur zu bleiben, im Rennsportbereich. Hier erkennt die Sensorik sofort Schwachstellen im Wagen, bevor eine akute Verschlechterung eintritt. Damit kann man frühzeitig intervenieren und verhindert schwere Folgen wie beispielsweise Unfälle. Ich bin davon überzeugt, dass auch im Gesundheitsbereich Softwarelösungen zukünftig zum Partner von Ärzten und Patienten werden. Wir werden vermehrt auch digitale Helfer, wie etwa Smartwatches, nutzen, die unsere Vitaldaten kontinuierlich messen, uns Hinweise geben, sobald wir einen Arzt aufsuchen müssen.

 

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Wer profitiert davon?

Vor allem für unsere alternde Gesellschaft ist das ein echter Zugewinn. Die Zahl der Onkologie-Patienten wächst, aber die Ärzteschaft für die Betreuung ist nicht ausreichend. Software-Lösungen von morgen können hierbei einen entscheidenden Beitrag leisten – sie ersetzen das medizinische Personal nicht, sondern unterstützen es. Damit erfolgt der Besuch beim Arzt zielgerichteter und das medizinische Fachpersonal wird als Ressource mehr geschont.